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Auf ins Leben – und der Sehlernprozess beginnt!

So wie viele Fähigkeiten für ein Neugeborenes zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht vorhanden sind und durch Entwicklungsschritte erlernt werden, wie z.B. Sprechen, Krabbeln, Laufen, ganz allgemein gesteuerte Grob- und Feinmotorik, so ist auch Sehen ein Lern- und Entwicklungsprozess.

In synergetischer Weise zu anderen Entwicklungsschritten, vollzieht sich die Entwicklung und Reifung des visuellen Systems. Die Stelle des „schärfsten Sehens“ auf der Netzhaut im Auge, welche der genauen Fixation und Auflösung (Sehschärfe) dient, entwickelt sich erst nachgeburtlich innerhalb der ersten Lebensmonate. Viele Sehfunktionen werden somit erst erlernt. So wie das Kind seinen Sehlernprozess durchläuft, bilden sich neuronale Netzwerke im Gehirn, die immer spezifischer werden. Viele neurophysiologische Verknüpfungen zu anderen Gehirnzentren bauen sich in den ersten Lebensjahren auf.

Eine gute und störungsfreie Entwicklung der Sehschärfe, der beidäugigen Koordination und der visuellen Funktionen dauert bis über das Einschulungsalter hinaus an und ist auch noch in späteren Jahren veränderbar durch positive oder negative Einflüsse.

Die Sehentwicklung in Stationen

Das erste Lebensjahr:

Kinderaugen sind in der Regel „weitsichtig“, bei der Geburt. Diese Weitsichtigkeit geht einher damit, dass die Bauart des Auges noch nicht der Bauart eines „ausgereiften“ Auges entspricht. Baulänge, Augenlinse, Fovea Centralis und damit die Netzhautstruktur verändern sich in den folgenden Monaten erheblich. Die Augenlinse ist noch nicht dazu in der Lage Veränderungen zwischen Fern- und Naheinstellung vor zu nehmen. Die Fähigkeit erlernt sich nachgeburtlich erst. Babyaugen sind bauartbedingt eher auf den Nahbereich ausgerichtet, insbesondere um das Gesicht der Mama in der ersten Prägephase wahrnehmen zu können.

Die Augenkoordination ist nicht immer zielgerichtet in den ersten Lebenswochen. Oft tritt in den ersten Wochen noch das so genannte „Babyschielen“, v.a. bei Müdigkeit auf.

Blickbewegungen sind stark von Sakkaden geprägt und spielen sich in den ersten Lebenswochen vor allem im horizontalen Bereich ab. Ab dem Zeitpunkt wo das Baby in der Bauchlage die Kopfkontrolle erlernt, werden mehr und mehr auch die vertikalen Blickbewegungen geübt. Dies wiederum ist auch ein Training für die Augenlinse, welche nun anfängt durch Muskelimpulse Ihre Einstellung zwischen Ferne und Nähe zu verändern.

Die Fähigkeit der Augenlinse die Brechkraft zu verändern (Akkommodation) ist wesentlich von Bedeutung für die Reifung der Netzhaut und der Entwicklung der Sehschärfe, als auch für den Abbau der angeborenen Weitsichtigkeit.

Einhergehend mit dem Entwicklung der eigenständigen Kopfhaltung entwickelt sich ebenfalls schon mehr Augenkoordination, die dazu führt, dass nun auch immer mehr neurologische Strukturen für die beidäugige Verknüpfung gebildet werden. Somit bekommt auch die Augenstellung beim Blick in die Nähe und die Ferne, gleichermaßen wie der Akkommodation, größere Bedeutung zu: Beim Blick in die Nähe stellen sich die Augen nach innen (Konvergenzeinstellung & Akkommodationsanspannung), beim Blick in die Ferne zurück in eine „Parallelstellung“ (Divergenzeinstellung & Akkommodationsentspannung). Eine gute Koordination zwischen Akkommodation und Konvergenz trainiert sich weit über das erste Lebensjahr hinaus.

2. – 6. Lebensjahr:

In dieser sehr langen Zeitspanne gibt ebenfalls noch viele visuelle Entwicklungsschritte. Die Akkommodation (Einstellung der Augenlinse) wird noch weiter erlernt und trainiert. Die Akkommodationsbreite der Augenlinse nimmt weiter zu. Die frühkindliche Weitsichtigkeit baut sich zunehmend ab.

Die beidäugige Koordination beim Blick in die Ferne, die Nähe und bei Blickbewegungen im Allgemeinen trainiert sich zunehmend, in Abhängigkeit davon, wie sich auch viele andere körperlichen feinmotorische Bereiche erlernen und trainieren.

Das beidäugige Sehen, welches eine wichtige Vorraussetzung für Stereosehen ist, baut sich weiter auf. Dies geht mit einer intensiven neuronalen Reifung einher. Es gibt in diesen Jahren der kindlichen Sehentwicklung für das Binokularsehen (beidäugiges Sehen) sehr viele „kritische“ Phasen. Kritische Phasen bedeutet, dass diese Phasen einerseits störanfällig sind, und andererseits nicht mehr (gut) außerhalb dieser Zeitfenster erlernt oder entwickelt werden können,

Ab dem 6. Lebensjahr:

Idealerweise verfügt das Kind zum Einschulungstermin hin über eine gute Sehschärfe in der Ferne und in der Nähe.

Die Fähigkeit die Augen zielgerichtet zu koordinieren, ist insbesondere beim Erlernen der Schriftsprache (lesen und schreiben), von großer Bedeutung.

Die angeborenen kindliche Weitsichtigkeit hat sich bis auf einen minimalen Restbetrag in der Regel abgebaut.

Die Augenlinse sollte akkurate Einstellungen für Nahbereich vollziehen und halten können, solange die Aufmerksamkeit des Kindes bei der Nahtätigkeit gefordert ist. Ebenso die Fähigkeit der Konvergenz (Fixierlininen bewegen sich nach innen zur Nahsicht.)

Das binokulare Sehen und somit das Stereosehen ist weitestgehend entwickelt und vorhanden. Die Gesichtsfeldperipherie baut sich allerdings noch weiter auf zu diesem Zeitprunkt.

Für die Konzentration und Aufmerksamkeitssteuerung ist eine gute Integration des zentralen Sehens (bei Fixation) und des peripheren Sehens notwendig.